Vätternrundan
2007 - Von einem sächsischen Wanderer, der auszog, den See in 24 Stunden mit
seinem Tourenrad zu umrunden
Diesen langen und doch bis zum Schluss
unterhaltsamen Bericht schrieb Wolfgang Flohr aus Markkleeberg (Sachsen)
Da hab ich nun schon vieles probiert, aber 300 km nonstop mit dem Fahrrad …?
Frank Ohme aus Hamburg (ein Verwandter) hat mir vor Jahren von diesem Abenteuer in Schweden am Telefon erzählt und per Fax Details
genannt. Weil ich ja öfters mal mit dem Rad so ein paar längere Strecken wandere. Dann geriet das ganze ein wenig in
Vergessenheit und es
waren auch andere Abenteuer vorrangig - meine Radtouren nach Liechtenstein und zum Bodensee, zum Dreiländereck nach Aachen oder
die Tour „Kopenhagen / Südschweden“. Auch der „Ritt über die Alpen“ 2006 nach Kroatien waren mir wichtig.
Und dann war die „BIWAK“-Sendung im MDR mit Thorsten Kutschke im Jahr 2006 die Initialzündung –
„ICH MACH DAS AUCH !!!“
Alle Informationen gab’s im Internet und die Anmeldung war schnell erledigt. Ich werde doch bis zum Start ausreichend trainieren können
…?
1.000 Kilometer sollte man mindestens in den Beinen haben und die Limitzeiten bis zu maximal 28 Stunden schienen auch machbar.
Aber das mit dem Training war so eine Sache. Meine Wanderungen (auch die ganz harten über 100 km) und die Vorbereitung und Organisation unserer
„7-Seen-Wanderung“ ließen mir kaum Zeit für ausgedehnte Radtouren. So ein bis maximal vier Mal
um den Cospudener See (eine Runde mit knapp 11 km) können ja keine optimale Vorbereitung sein.
Und auch eine einmalige Trainingstour von Markkleeberg nach Dresden war wohl mehr die
sprichwörtliche Schwalbe, die noch keinen Sommer macht.
Der Termin rückte immer näher, aber ich war in
der Organisation unserer Wanderung voll eingebunden. Ich bildete mir einfach ein, genügend
Ausdauer durch meine gestandenen Marathons, Rennsteigläufe und Wanderungen zu haben. Durch die
mehr oder weniger erfolgreich angegangenen Hunderter (100 km-Nonstop-Wanderungen) fühlte ich
mich zumindest mental gut vorbereitet und mit Müdigkeit in einer Wettkampfnacht kann ich auch sehr
gut umgehen. Glücklicherweise hatte ich schon frühzeitig gemeldet, so dass ich mir eine Startzeit am Freitag noch
deutlich vor Mitternacht ausrechnete, um also bis Zielschluss am Sonnabend (24:00 Uhr) genügend
Zeit zu haben.
Radwandern war ja meine Devise, also mit meinem Fahrrad (ein mir ganz liebes
Geburtstagsgeschenk von Rainer) „das Ding zu machen“. Ohne das bei meinen Radtouren durch
Mitteleuropa so obligatorische Gepäck wird das bestimmt leichter und das Streckenprofil ist auch nicht
ganz so erschreckend. Da habe ich bereits andere Berge gemeistert. Aber ich sei auch nicht mehr der Jüngste,
wurde mir von der besseren Ehehälfte signalisiert (die 60 „droht“).
Die „7-Seen-Wanderung“ hatte ich endlich gut im Kasten (dank eines hervorragenden Teams) und die
mir wichtigen Wanderungen („Rennsteig“ und „Horizontale Jena“) hab ich nun auch so richtig
vermasselt. Rennsteig-Wanderung durch viel zu hohes Tempo am Anfang und Magenproblemen bei
km 30 abgebrochen (abbrechen müssen) und in den Kernbergen hab ich dann bei km 83 das
Handtuch geworfen, weil ich meine Kräfte 14 Tage vor der Vätternrundan nicht bis aufs Letzte verausgaben
wollte. Am 7. Juni noch eine große Party hier mit vielen Freunden (Auswertung der Wanderung) und
das Angebot von Bernd Dülsner abgelehnt, mit seinem Rennrad zu starten. „Schuster, bleib bei deinen Leisten“ – und ich bleibe bei meinem Rad, das mit mir schon so viele
schöne Abenteuer erlebt hat.
Hotels hatte ich in Saßnitz und Schweden per Internet gebucht. Im Umkreis von 100
Kilometern um den
Startort Motala war aber nichts mehr frei. Sicherheitshalber warf ich die „Kleine Campingausrüstung“
noch in den Kofferraum und das Fahrrad war in Zwenkau zum Check bei „Fahrrad-Hillert“, einem Profi
der Landstraße. Er konnte mit "Vätternrundan" was anfangen, bewunderte (oder belächelte?) meinen
Mut und wünschte Glück. Aus seinem Verein war auch ein weiterer Radrennfahrer gemeldet.
Mit der Fährverbindung Saßnitz – Trelleborg war telefonisch einfach nichts zu vereinbaren –
permanent besetzt. Aber den einen Pkw mit Rad obenauf werden die schon mitnehmen …
Dienstag, 12. Juni 2007
Rechtzeitig dann ab mit dem Auto in Richtung Rügen. Die besten Wünsche von allen hatte ich im
Gepäck. Ich war am Nachmittag rechtzeitig in Mukran im Hotel und dann am Fährhafen, der
merkwürdig verlassen aussah. Zur Sicherheit wollte ich mich noch mal erkundigen, wie ich Frühstück im
Hotel um 7:00 Uhr und Abfahrt der Fähre um 8:00 Uhr in Übereinstimmung bringen kann.
Die Auskünfte waren erschreckend: Es gibt keine Möglichkeit der Überfahrt, weil irgend so ein
Dampfer defekt ist. „Vielleicht fragen Sie morgen vormittag noch mal nach, da wissen wir eventuell mehr …“
Diese Auskünfte hielten mich dennoch nicht ab, einen Ausflug nach Glowe zu machen und ausgiebig
in der Ostsee zu schwimmen. Wird schon noch eine Lösung geben, so mein unerschütterlicher
Optimismus.
Mittwoch, 13. Juni 2007
Pünktlich 7:30 Uhr nach einem hastigen Frühstück war ich wieder am Fährhafen in der Hoffnung …
(siehe oben). Pustekuchen, jede Möglichkeit mittels Fähre (auch über Rostock) wurde als nicht
realisierbar dargestellt - eventuell am Freitag … Also nun ganz einfach mal „ERNA“ (mein Navi) gefragt, wie die Alternative über Fehmarn / Dänemark
rein zeitlich und in Kilometern machbar ist. Ich hatte ja noch Zeit bis zum Start am Freitag in
Motala. Also wieder runter von Rügen und auf der Ostsee-Autobahn A 20 westwärts über Rostock
und Lübeck nach Fehmarn. Einen Teil der Strecke kannte ich ja schon als Radtourist.
Zwischenzeitlich
hab ich das Hotelzimmer in Norköping per Handy abbestellt. Es war aussichtslos, da heute noch zu landen.
Die Fährüberfahrt nach Rodby wie gewohnt, ohne Probleme und ich hatte ja nun auch mal Zeit (45 min.), um
Kraftreserven zu tanken, sprich ein verspätetes Mittagessen. Die Autobahnen um Kopenhagen waren sehr voll und es
ging nur langsam nach Helsingborg / Helsingor. Ich kann ja mal zugeben, dass ich die Überfahrt über die Öresund-Brücke auf Grund der Erfahrungen im Jahr 2000 bei der
Querung des „Großen Belt“ (starker Seitenwind und bissel Höhenangst) gemieden habe.
Auf schwedischer Seite ist man dann auf der Autobahn schnell außerhalb der Städte und es geht mit
den erlaubten Höchstgeschwindigkeiten recht zügig nordwärts. Ich darf erwähnen, dass ich dieses
Land über alles liebe und immer wieder gern hierher komme. Wir hatten hier schon Urlaub, ich war
beim Wasalauf und mit dem Rad hab ich auch schon einiges erwandert. Dann nach Stunden endlich
am Abend Jönköping am Südzipfel des Vättern.
Der Vätternsee ist eigentlich ein kleines Meer (soll
wohl mal vor Tausenden von Jahren ein Teil der Ostsee gewesen sein, wie sein großer Bruder, der
Vänernsee). Jedenfalls so um die 130 km lang und bis zu 35 km breit. Nun habe ich zum ersten Mal
Kontakt mit der Strecke. In etwa hier soll dann auch der Kilometer 110 sein und ich „genieße“ das
Profil. Die Höhenunterschiede sind doch etwas respektabel. Und ich stelle mir vor, von hier aus „nur
noch“ 190 km radeln zu müssen. Dafür ist der Straßenbelag hervorragend und außerhalb der Stadt
(am Westufer) gibt es ausreichend Wald rechts und links der Straße, was mir etwas Zuversicht wegen
der Windanfälligkeit gibt (ich werde meinen Irrglauben später revidieren müssen). Es ist langsam an der Zeit,
eine Bleibe zu suchen. Ich habe ganz bewusst die Seeseite gegenüber Motala ausgesucht, da rings
um den Start- und Zielort per Internet keinerlei Quartier aufzutreiben war. Verständlich, bei ca. 16.000
angemeldeten Starten nebst Begleitern.
In einem kleinen verträumten Dörfchen etwa in Höhe km 150 finde ich abseits der Straße eine kleine Pension und auch ohne
Probleme ein Zimmer. Etwas spartanisch aber idyllisch am Waldrand gelegen. Die Formalitäten sind schnell erledigt und
natürlich werde ich als Teilnehmer des Radrennens erkannt. Hier spricht man wahrscheinlich um diese Jahreszeit von nichts
anderem.
Bald bin ich per Auto wieder draußen auf der Strecke auf der Suche nach einer Gaststätte für ein Abendessen. In
Hjo, einer Kleinstadt, werde ich schnell fündig. Hier also, bei km 179 soll für mich am Samstagmorgen eine Kontroll- und Verpflegungsstelle sein.
Meine Zuversicht ist nicht mehr ganz so optimal … Ist das überhaupt machbar? Ich werde im Restaurant in gepflegtem Deutsch vom
Kellner auch gleich
in ein Gespräch verwickelt und er gibt mir die besten Wünsche mit auf den Weg.
Nicht mehr lange, und ich liege in meinem Bett und träume von Sachen, die da kommen sollen …
Donnerstag, 14.Juni 2007
Heute ist unser Hochzeitstag und ich bin im fernen Schweden. Na ja, im Zeitalter der Kommunikation
können Glückwünsche auch per Handy über die Ostsee gesendet werden. Aber das mach ich erst viel später.
Die Rosen müssen erst angeliefert sein …
Das Frühstück ist gut und das Wetter auch, aber die obligatorische Schwedenfahne vor dem Gasthof
zeigt, dass es recht windig ist. Mein Augenmerk gilt jetzt besonders dem Wetter. Ich möchte noch
etwas von der Gegend kennen lernen und so fahre ich weiter vom See weg auf einer einsamen
schmalen Straße durch den Wald. Bald schon entdecke ich in einem Naturschutzgebiet einen kleinen
See, an dem ich lange verweile. Der Wind ist mir aber zu kühl, um schwimmen zu gehen. Jetzt kann ich mir auch nicht die kleinste
gesundheitliche Unpässlichkeit erlauben. Also wandere ich wenigstens rund um den verträumten See und grüße die beiden
Angler. Bald sitze ich wieder im Auto und fahre dann um den Vättern. Dabei versuche ich, mich mit der Strecke anzufreunden.
Überall nun bereits Markierungen und die Entfernungsschilder. Alle fünf Kilometer wird hier der noch zu schaffende Rest angezeigt. Hinter Karlsborg noch einmal eine
Bergan-Passage, die sich mir einprägt. Dann in Hammarsundet der Schwenk der Strecke wieder südwärts Richtung Motala. In dieser Stadt nun
stelle ich das Auto ganz dicht im Zielbereich ab.
Hierher also muss ich am Sonnabend. Die Stadt ist voll in Radfahrer-Hand. Ein Gewimmel wie beim
„Berlin-Marathon“. Zeitgleich findet irgendein Schulabschlussfest statt. Ein bissel kleinlaut werde ich,
wenn ich all die professionellen Radrennfahrer und ihre Hightech-Rennräder sehe. Und die Angebote
mit Zubehör und Ersatzteilen, Bekleidungsstücken und Powerernährung überschlagen sich. Alles
natürlich zum absoluten Sonderpreis. Das Einchecken geht völlig problemlos inklusive des
elektronischen Chips. Da hat man Routine. Ich kaufe mir ein Paar neoprenartige Überziehschuhe für die
Füße, um ein Auskühlen in der Nacht zu verhindern (garantiert wind- und wasserfest). Von den
Getränkeflaschen der Sponsoren kann man aus großen Kisten einfach ohne Bezahlung nehmen, was
ich dann auch mache.
In einem der Lokale esse ich zu Mittag im Kreise zahlloser Aktiver, die von
Freunden und Familien begleitet werden. Hier trifft man wahrscheinlich alle Nationen. Auch einige
Sachsen kann ich sehen, was aus den aufgeschnappten Wortfetzen oder den Trikots ersichtlich ist.
Mir wird immer mulmiger. Mit meinem Drahtesel bin ich gegen die Rennmaschinen-Besitzer ein Exot.
Es ist nun an der Zeit, mich einmal in der Umgebung nach einem Plätzchen für mein Zelt
umzuschauen. Ich will nach der Zieleinfahrt möglichst schnell in die Waagerechte kommen. Bei der
Einfahrt in die Stadt hatte ich bereits genügend Hinweise auf zahlreiche Campingmöglichkeiten
gesehen. Nun folge ich den erstbesten Hinweisen mit der Bezeichnung „Camping“. Kurz vor dem See
dann eine große Wiese, die zum Campingplatz ohne Luxus umfunktioniert wurde. Gegen eine
vernünftige Gebühr bekomme ich von einem vorneweg radelnden Platzmeister auch eine schöne
Ecke am Waldrand zugewiesen, nachdem ich beim Umstellen der transportablen Fußballtore geholfen
habe. Das Zelt ist schnell aufgestellt und eingerichtet. In der Nachbarschaft auch Sportfreunde aus
Stuttgart, Dresden und Zittau.
Es dauert nicht lange, da kommt der radelnde Platzanweiser wieder und
hat einen Pkw mit dem Kennzeichen „MEK - ….“ im Schlepptau. Gestikulierende Hände hinter der
Windschutzscheibe – welche Freude als Jürgen & Jürgen aus Witzschdorf aussteigen. Ich hatte im
Winter Jürgen Etling von der Vätternrundan vorgeschwärmt und zur Wanderung in Markkleeberg hatte
er mir von der geplanten Teilnahme erzählt. Beide waren bei uns auf der Hunderter-Strecke und nun
will es der Zufall, dass wir hier nebeneinander campieren. Ich bewundere ihre Rennmaschinen und die perfekte Ausrüstung.
Wie unter Sachsen üblich, erst einmal ein Schwätzchen bei einer
Tasse Kaffee. Sie sind beide hoch motiviert und trainiert. Na, das
kann ja heiter werden.
Gegen Abend mache ich mich dann „vom Acker“, sprich: von der
Campingwiese. Ich will noch eine Nacht in meiner Pension auf der
anderen Seeseite schlafen, zumal ich dort mein gesamtes Sack
und Pack habe. Dabei kann ich nun die noch unbekannte Strecke
bis Jönköping kennen lernen. Der erste Teil der Strecke ist ganz
eben, aber auch sehr offen, sprich: windanfällig. Und heute war
recht steifer Wind. Der frontal vor mir liegende Bergrücken macht mir ein wenig Unbehagen, aber die
Strecke geht dann seitlich an der Flanke vorbei. Das Abendbrot nehme ich an einer
Autobahnraststätte und von der benachbarten Burgruine habe ich einen herrlichen Ausblick auf den See und
auf einen Teil der Strecke unten im Tal. Hier in Skandinavien ist es zu dieser Jahreszeit ja noch sehr
lange hell und so kann ich ohne Probleme weit über den See schauen. Das gegenüber liegende
Seeufer ist aber kaum zu sehen. Bald bin ich wieder in meinem Quartier, nicht ohne von der bergigen
Streckenführung in und hinter Jönköping „beeindruckt“ zu sein.
Freitag, 15. Juni
2007
Natürlich habe ich unruhig und wenig geschlafen. Es war so zu erwarten. Ich bin in letzter Zeit recht
anfällig für solche „Vor-Start-Unruhe“. Der erste Blick gilt dem Wetter, speziell dem Wind - unverändert
zum Vortag. Nach einem guten Frühstück ab ins Auto und los in
Richtung Motala. Hier also will ich morgen früh entlang radeln. Die Markierungsschilder „stehen“ … 145, 140, 135 usw. –
und auch die Vorbereitungen, die Verkehrsschilder unsichtbar zu
machen (Müllsäcke als Überzieher) sind zu erkennen. Die
Landschaft ist wunderschön. Nur ganz wenige Ortschaften und
dann auch recht verträumt. Hier fühle ich mich besonders wohl.
Ich versuche, mir Besonderheiten der Strecke einzuprägen,
besonders die große Brücke über den See bei Hammarsundet.
Motala ist jetzt ein Ameisenhaufen mit babylonischem Sprachengewirr. Auch ich versuche, mich nun
auf dem Campingplatz auf das Abenteuer vorzubereiten. Mit einer Portion Schlaf wird es natürlich
nichts. Aber ich liege wenigstens und ruhe mich aus. Und da sind auch noch die Freunde aus dem Erzgebirge und Nachbarn aus Dresden. Deren
Vorbereitungen (Speichen und Kette prüfen, Luftdruck nachjustieren und und und
...) laufen auf
Hochtouren. Mein Fahrrad steht immer noch gut verzurrt auf dem Audi-Dach.
Ich überprüfe meine Bekleidung und lege mich fest, was ich anziehe und was ich zusätzlich im Rucksack bzw. auf dem Gepäckträger mitnehme. Kurz vor 19:00 Uhr bin ich einer der Ersten, der den Platz
verlässt. Mit Startnummer 1102 darf ich 20:36 Uhr auf die Piste; alle anderen hier in meiner
Umgebung meist erst kurz vor oder sogar erst nach Mitternacht. Ich habe einen kleinen Zettel dabei
mit Startnummern mir bekannter Leute und mit Hochrechnungen, wann und wo sie mich eventuell
überholen könnten (aus deren Startzeit und den zu erwartenden Geschwindigkeiten errechnet). Erst
schiebe ich mein Rad über die Wiese und dann an der Straße geht es in den Sattel.
Komischerweise
drückt mein Rucksack und der Sattel ist recht hoch eingestellt. Aber der Luftdruck der Reifen scheint
optimal, ich rolle hervorragend. Und das mit dem Rucksack und dem Sattel werde ich noch vor dem
Start korrigieren, so mein Plan. Wahrscheinlich habe ich auch noch zuviel an, denn ich schwitze
enorm. Und vor lauter Aufregung schlage ich auch noch die Richtung Ziel ein, obwohl der Start ganz
woanders, in einem Gewebegebiet liegt.
Dann in einer Grünanlage inmitten eines Neubaugebiets bringe ich meinen Rucksack in Form, indem
ich mich von einem Teil der Trinkwasser-Vorräte (Wassersack im Rucksack mit Trinkschlauch) trenne.
Die beiden Trinkflaschen am Rahmen mit Cola und Apfelschorle hab ich ja schließlich auch noch.
Und nun stelle ich den Sattel dank Schnellspanner auch auf eine mir angenehme Höhe, mittels derben
Fausthieben von oben. Schnell wieder fest gespannt und aufgesessen, denn langsam drängt die
Zeit…
Kaum sitze ich im Sattel, gibt dieser auch schon nach und rutscht hinab bis auf den Rahmen, und
dreht sich nach allen Seiten. Na bin ich denn zu blöd den Schnellspanner richtig fest zu machen?
Zweiter Versuch mit allen Kräften. Das Ergebnis: Der Sattel rutscht. Ich bin jetzt doch ganz schön
nervös und der Puls jagt in die Höhe. Schweißbäche stürzen den Rücken runter. Die Uhr tickt
unaufhaltsam und ich bin noch nicht im Startbereich. Außerdem sehen die Hände auch noch schmierig aus.
Was nützt es mir, dass alle Schrauben und die Kette bestens geölt sind, wenn die eine entscheidende
Schraube nicht hält.
Mit den Knien an den Ohren und einem sich drehendem Sattel sind keine 300 km zu bewältigen!!!
Also schnell an den Servicestand eines ortsansässigen Fahrradhändlers im Vorstartbereich. Aber
nach einigen gut gemeinten Versuchen nur bedauerndes Schulterheben des Monteurs … dieses
Problem ist hier so nicht zu lösen. Grenzenlose Wut, Verzweiflung und Enttäuschung (Tränen?) sind die
Emotionen, die sich jetzt meiner bemächtigen. Sigrid auf der anderen Seite der Handy-Verbindung
spürt es. Ich schleudere den nunmehr sehr mobilen Sattel zwischen Zuschauern hindurch auf die
Wiese. Gebe es Meisterschaften im Sattelweitwurf, ich hätte sicher einen Platz auf dem
Siegertreppchen. In weniger als einer halben Stunde geht meine Truppe auf die Strecke und ich stehe hilflos hier.
Es muss eine Lösung geben, bitte!
Also die beiden Teile des Rades wieder vereint und rein in den
Startgarten. Auch hier noch einmal diverse offizielle Service-Stände, an denen sich zahllose Sportler Hilfe bei Problemchen
versprechen. Ich drängle mich mit meinem Vehikel vor, mit einer
Hand auf meine niedrige Startnummer verweisend, die den
geplanten Start in Kürze anzeigt. Falten auf der Stirn „meines“
Fahrradmonteurs machen mich auch nicht glücklicher. Die
Verständigung geht ja auch nur mit den Händen, denn mein
Schwedisch tendiert gegen Null. Aber der Mann hat eine fast
geniale Idee – er stopft ein Stück Kabelbinder zwischen Sattelstütze und Rahmenrohr und erhöht damit den Widerstand.
Der Sattel hält!!! Und ich versuche, den Puls wieder in normale Werte zu kriegen. Jetzt noch einmal
kurz die Hände gewaschen (Wasser aus dem Rucksack angesaugt und über die Hände gespuckt) und
schon bin ich an der Kontrollschleuse zum Start. Meine Beleuchtung und der TÜV-geprüfte Helm
kommen ohne Beanstandung durch. Ich stehe im Startbereich und bin jetzt schon fertig.
Und um mich herum die Rennräder edelster Marken und Ausstattungen, glücklicherweise aber auch
einige Exoten. In meiner sechziger Gruppe stelle ich mich ganz hinten hin und dann
geht es pünktlich mit Startsirene 20:36 Uhr auf die Strecke.
Mein Blick nur nach unten auf die Straße und meine ganze Aufmerksamkeit auf das Teil unter meiner
gepolsterten Hose. So sehe ich auch nicht, dass meine Sportfreunde aus dem Erzgebirge an der
Straße stehen, Fotos schießen und mir eine „Gute Nacht“ wünschen wollen. Nach wenigen Minuten
sind wir draußen aus der Stadt und ich lasse bereits den Kontakt zur Gruppe abreißen. Ein Radfahrer
mit ähnlicher Ausrüstung ist noch bei mir, während uns schon die nach uns Gestarteten im Pulk
überholen.
Mein GPS-Gerät zeigt eine Fahrgeschwindigkeit knapp unter 20 km/h an, was eigentlich
schon zu schnell ist. Aber ich fühle mich wohl, Puls und Adrenalinspiegel haben sich wieder
eingepegelt und die Strecke ist ganz eben. Ich plane einen Durchschnitt von 15 km/h, also eine
Nettofahrzeit von 20 Stunden, zuzüglich vier Stunden als Gesamtpausen. Der Kontakt per Handy nach
Hause noch einmal und ich melde, dass ich die Probleme (erst einmal) in den Griff bekommen habe.
Ich werde noch einmal eindringlich gewarnt, nicht zu schnell anzugehen, mit dem Verweis auf das
Fiasko auf dem Rennsteig. Ich versichere, vernünftig sein zu wollen. Unterwegs dann in einer Gruppe
vor mir bereits ein Unfall, denn ein Sanitätsfahrzeug jagt mit Blaulicht an uns vorbei. Ich registriere
auch, dass die Rennradfahrer wirklich Reifen an Reifen dahinrasen, um auch den kleinsten Vorteil aus
dem Windschatten zu realisieren. So kann und will ich nicht fahren. Ich will die 300 Kilometer sehend erobern.
Bei 43 km das erste Depot in Hästholmen. Ich hab mir vorgenommen, überall zu rasten und nach Möglichkeit auch zu essen.
Mit einem Ehepaar aus einem kleinen Ort in Thüringen komme ich
ins Gespräch. Es ist immer noch erstaunlich hell, trotz fortgeschrittener Stunde. Wieder auf der Piste kann ich nun die
Frontalanfahrt auf den Bergrücken genießen, weiß ich doch, dass wir mit
geringem Höhenunterschied an der Flanke seitlich um den Berg
fahren. In der hereinbrechenden Dämmerung dann geht es weg
von der Hauptstraße und durch kleine Städte und Dörfer. Am
Rande der Strecke sehe ich einen großen dampfenden Holzzuber
stehen, in dem nackte Männlein und Weiblein zechen und uns das
nun schon vertraute „heja, heja“ zurufen. Ich fühle mich relativ gut und bin diszipliniert im Tempo
(so um die 18 km/h) unterwegs. Leichte Bergauf-Strecken kann ich mit der Schaltung parieren.
Nach
einem Waldstück dann der Blick hinauf zur beleuchteten Burgruine, die ich bereits gestern (oder sind
wir schon nach Mitternacht?) bewundern durfte. Ich weiß aber auch, dass nun gleich der Anstieg
kommt, der uns über 100 m Höhenunterschied bringt. Aber auch das werde ich wohl hinkriegen. Dann
das Ortseingangsschild von Gränna, einer sehr hübschen Kleinstadt. Mir scheint, alle Bewohner sind
an der Strecke.
Aber mit der Stadt kam auch ein Abschnitt, auf dem wir mit Kopfsteinpflaster zu kämpfen haben.
Und dieses Pflaster verträgt sich überhaupt nicht mit meiner improvisierten Sattelstütze. Das Resultat:
Ich sitze wieder unten in Rahmenhöhe und der Sattel macht die horizontale Kreisbewegung.
Mist!
Es sind nämlich erst so um die 77 km geradelt. Aber zwischenzeitlich war mir die Ursache des
Problems „aufgegangen“. Ich muss wohl bei meiner mit Faustschlägen realisierten Sattelverstellung
eine entscheidende Metallmanschette in das Rahmenrohr befördert haben. Diese Manschette muss
nun wieder raus und die Rohrspannung vergrößern. Es hilft nichts, ich muss vom Rad und selbiges
auf den Kopf stellen. Schnell sind freundliche Schweden aus Gränna an meiner Seite und bieten Hilfe
an. Und das nachts gegen ein Uhr. Unter einer Straßenlaterne versuche ich nun mein Fahrrad wieder
auf Vordermann zu bringen, beäugt von vielen Zuschauern und sicher ein wenig bedauert von den
Hunderten Radrennern und –fahrern, die jetzt in Rudeln an mir vorbei ziehen. Ich bin mir sicher, ich
werde das Problem lösen, aber die Manschette kommt nicht aus dem Rohr, selbst dann nicht, als ich
mit einem Besenstiel in diesem Rohr rumstochere. Man verzeih mir bitte, dass ich
diesen auf dem Hofe hinter
einem Haus stahl.
Da ich auch keinerlei Blechstück finde, welches sich als Notmanschette eignen könnte, entschließe ich mich, den Besenstiel auf eine mir angenehme Länge zu
kürzen, damit er das Hineinrutschen des Sattelrohres verhindern möge. Im zweiten Versuch gelingt
mir das auch. Der Sattel hat jetzt die richtige Höhe, dreht sich aber noch nach rechts und links. Eine
aufgeregte Schwedin, wahrscheinlich die Besitzerin des nunmehr stark eingekürzten Besens, kommt
aus dem Haus und spricht auf mich ein. Ich versuche, meine Notlage und den Diebstahl des
Besenstiels zu erklären, aber sie lässt nicht nach. Wir sprechen eben verschiedene Sprachen.
Bis ich
endlich begreife, dass sie mir mit einer Art Lenkerband aushelfen will und ich, bitte schön, die
Sattelspitze mittels einer Bandage an der Stange (Herrenrad sei Dank) fixieren möge. Es klappt
perfekt und das seitliche Spiel ist nunmehr nur noch minimal. Auch die Sattelhöhe ist optimal, so dass
ich den Ritt in die Berge bei Gränna perfekt absolvieren kann. Ich habe aber allerhand Zeit eingebüßt.
Endlich nun oben an der Verpflegungsstelle bei km 81 nun will ich
mein Provisorium reparieren. Ich brauche ein Stück Blech, vielleicht aus einer Bierdose, oder ähnliches. Essen und Toilette sind
jetzt zweitrangig, erst kommt das Fahrrad. So in der Dunkelheit,
nur mit Licht aus den Notscheinwerfern versuche ich mein
Problem dem diensthabenden Techniker begreiflich zu machen.
Er findet in einer seiner zahllosen Kisten auch ein Teil, welches
genau meinen Vorstellungen entspricht. Ich bin glücklich.
Unter seiner Tapeziertisch-Nothilfe-Werkbank in den Werkzeugkoffern finde ich jetzt auch noch einen
entsprechend großen Hammer und Schraubenzieher. Mit meinen bescheidenen
Selbsthilfe-Kenntnissen gelingt mir nun auch noch diese Reparatur, und ich gebe das Werkzeug dankend zurück,
dass mein Monteur kaum aus den Augen verloren hatte.
Das Fahrrad ist jetzt versorgt (der Besenstiel ist auch Monate später noch im Rahmen), nun versorge
ich mich. Erst gilt es, die Entsorgung zu erledigen (derartige Toilettenanlagen hab ich noch nie
gesehen) und dann kommt die Versorgung. Warme Blaubeersuppe und Honigwasser sind eine
Delikatesse, so meine Einschätzung. Stunden später, am …zigsten Verpflegungsstand kann ich
selbige dann kaum noch genießen. Pünktlich 2:00 Uhr verlasse ich den Point und während ich raus
will, will Thorsten Kutschke von „BIWAK“ rein. Genau hier und genau zu dieser Minute erwartete ich
seine Überholattacke. Wir wechseln ein paar Worte und dann bin ich draußen in der Nacht, wieder
eingereiht in die Tausende von roten Lichtern, die vor und sicher auch hinter mir durch Schweden
rollen.
Es ist empfindlich kalt geworden. Ich bin froh, die Überschuhe an den Füßen zu haben.
Ich hatte sie schon viel zu spät übergestreift, aber die Füße konnten sich wieder erwärmen. Mit den
bloßen Fingern außerhalb der Radlerhandschuhe komme ich zurecht, nicht aber mit dem kalten
Fahrtwind, der auf den Brustkorb knallt. Ich friere jämmerlich. Irgendwann erreiche ich Husqvarna und
das Piepsen zeigt mir, ich bin an dieser Kontrollstelle registriert.
Nun in einem weiten Schlenker auf eine Anhöhe in eine Art
Messehalle in Jönköping zur Verpflegung. Es dämmert bereits. Ich
bin weit vor meinem Zeitplan hier, aber es ging auch den Teil von
Gränna hierher deutlich bergab. Aber ich bin müde und will mich
etwas hinlegen. Erst 109 km sind geschafft. Das Verpflegungsangebot ist sehr gut. Der Haferschleim mit Konfitüre
entspricht genau meinen Wünschen und auch Kaffee ist reichlich
vorhanden. Die Pause dehne ich etwas stark aus. Ich weiß, nur so
komme ich durch. Mit steifen Beinen stake ich dann unschön zu
meinem Fahrrad und schwinge mich in den Sattel. Ich habe das
Gefühl, die Temperatur nähert sich dem Gefrierpunkt – bitter kalt.
Aber die Sonne ist bereits über dem Horizont und ich warte auf
wärmende Strahlen. Jetzt kommen die beiden gefürchteten
Anstiege, kurz und kräftezehrend. Ich schließe mich der radschiebenden Fraktion an, um Kraft zu sparen. Da aber kaum
Gepäck am Rad ist, geht das erstaunlich gut und der beim
Wandern praktizierte Bewegungsablauf ist eine gute Alternative
zum stundenlangen Strampeln. Ich weiß, jetzt kommt der schöne
Westabschnitt, der von kilometerlangen Wäldern gesäumt ist. Es
rollt sehr gut und die Sonne wärmt auch wieder. Fagerhult, ein
weiterer Verpflegungspunkt. Ich versuche, im Gras ein paar
Minuten zu schlafen. Dieser Schlaf von maximal zehn Minuten
hilft mir immer gegen die Müdigkeit. So kann ich meist mehrere Stunden erfolgreich überbrücken.
Endlich Halbzeit bei km 150 und ich sehe die Straßenkreuzung,
die zu meinem gestrigen Quartier führt. Es rollt! Dann in Hjo (km 178) an der Verpflegungsstelle die
erste ernsthafte Ermüdung in den Beinen. Zuvor erhielt ich aus
einem Pulk den Zuruf „Beucha grüßt Markkleeberg“. Und
auch die Freunde aus Dresden, die ich auf dem Campingplatz
in Motala kennenlernte, riefen mir zu, ich würde gut aussehen.
Jetzt muss ich aber essen. Das Angebot auch hier wie an allen Ständen. Das warme Honigwasser ist
nun nicht mehr so lecker, geht aber schnell ins Blut und bringt Energie. Auch die komischen Brötchen
kann mein Magen aufnehmen. Ich treffe auch eine Truppe aus Leipzig; die Trikots verraten den
Sponsor „Fahrrad-Berger“ aus Rückmarsdorf. Auch der Rufer aus Beucha gehört zu dieser Truppe.
Mit zwei Mädels aus dem Raum Rostock komme ich ins Gespräch, weil wir die selbe Biertischgarnitur
belagern. Sie sind hoch motiviert und verdammt gut im Training. Ihre Planzeiten liegen weit von den
meinen entfernt. Aber keiner lacht über so einen wie mich, sondern oft höre ich mit Hochachtung, dass
man es sich kaum vorstellen könne, solch lange Zeit auf dem Rad zu sitzen.
Ich kann und auch die Probleme mit den „Rückwärtigen Diensten“ sind dank der gepolsterten
Hose minimal. Irgendwann, nach überzogener Pause sitze ich wieder auf meinem vertrauten
Stahlross und strample gegen den Wind. Die Pulks haben es da einfacher, dank
Windschattenfahrens. Es tauchen dann doch immer mal mir schon vertraute Mitfahrer auf, da sich die Genussradler
eben auch so in ihrem Tempo anpassen. Der Wind kostet Kraft, so dass ich noch vor der nächsten
Verpflegungsstelle eine außerplanmäßige Pause einfüge. Gleichzeitig muss ich nun auch hin und
wieder überschüssige Flüssigkeit loswerden.
In Karlsborg (210 km) dann wieder eine Verpflegungsstelle, die ich mehr als ausgiebig nutze. Es fällt nun doch sichtlich schwerer. Die Sonne meint es auch
gut, so dass ich mir ein Liegeplätzchen unter einem Baum reserviere. Es gilt, die Flüssigkeitsreserven
aufzufüllen, bevor es wieder auf die Strecke geht. Jetzt wird es wieder sehr bergig. Oben auf so einem
Anstieg dann laute Musik, Blumenschmuck und ein Geistlicher irgendeiner Sekte, der uns begrüßt. Ich
nehme das Ganze als Ziel der Bergwertung.
Es fällt jetzt immer etwas schwerer und ich entschließe
mich, eine weitere Pause zu machen, zumal die Müdigkeit doch enorm ist. Also stelle ich mein Rad an
den Straßenrand, platziere meinen kleinen Rucksack mit der Startnummer so, dass man selbige beim
Vorbeifahren gut erkennen kann und haue mich ins Gras, um ein paar Minuten zu schlafen.
Kaum bin ich „abgetaucht“ in Morpheus Arme, rüttelt mich auch schon wieder wer wach…
Kann man hier nicht mal wenigstens zehn Minuten ein Nickerchen machen? Der medizinische Dienst
an der Strecke ist aber ständig um die Gesundheit der Aktiven besorgt. Man kontrolliert aus mehreren
PKW 's ständig die Strecke – sehr lobenswert. Aber ich bin doch okay, wollte nur mal bissel schlafen.
Na ja, was soll
es – wieder in den Sattel und weitergestrampelt.
Ich erreiche Boviken beim Kilometer 232 und ruhe etwas aus.
Langsam hängt mir das Verpflegungsangebot zum Hals raus.
Aber die süßen Sachen geben immer wieder einen neuen Schub,
also rein damit mit dem Honigwasser und der Blaubeersuppe.
Die Brötchen sind eine komische Masse und erinnern eher an
Hefeklöße. An die Salzgurken (Mineralienersatz?) will ich gar
nicht ran. Wir haben schönstes Wetter, wenn man vom steifen
Wind einmal absieht. Weiter will ich, wenn auch der Kampfgeist
etwas nachlässt. Den Abzweig von der Straße in Richtung
Hammarsundet sehne ich herbei.
Jetzt sehe ich immer wieder mir schon vertraute Sportler, die auch an der Leistungsgrenze kämpfen.
Endlich geht es ab von der Straße auf einen befestigten Weg an kleinen Gehöften vorbei. Dann noch
ein Erlebnis der besonderen Art, zwei Lkw sind hier auf schmaler Fahrbahn miteinander kollidiert und
restlos zerstört. Es sieht schlimm aus. Rechts und links unserer Strecke liegen die jeweiligen
Wagenladungen und was von den Fahrzeugen noch übrig ist. Ich steige vom Rad und will mir Details
anschauen (eigentlich nehme ich nur die Gelegenheit wahr, eine Zusatzpause zu machen).
Einige Zaungäste versuchen sich als Plünderer und ich verzichte aus Pietät auf Fotos.
Da ich nun
schon mal abgestiegen bin, will ich auch noch mal in die Waagerechte, denn eine schöne Wiese bietet
sich an. Noch habe ich zu meinem Zeitplan einen guten Vorsprung. Kaum habe ich mein müdes
Haupt gebettet, höre ich schon Autotüren klappen – der medizinische Dienst.
Ich versichere, dass bei mir alles „in Butter“ ist und breche die Pause dann eben ab. Ich will und muss
nun endlich nach Hammarsundet, von wo man dann endlich wieder südwärts Richtung Motala radeln
kann. Ich kenne die Strecke ja von meiner Kontrollfahrt mit dem Auto. Aber mit dem Rad und müden
Beinen sieht das alles viel länger aus, zumal es auch noch deutlich bergan geht.
Dann endlich die große Brücke und etliche Radfahrer schieben
ihr Gefährt hinauf. Mir bleibt auch nichts anderes übrig, denn ich
bin hier am Kilometer 262 fertig. Völlig ausgelaugt stelle ich bei
einer Inventur fest, dass keine Körner mehr im Körper vorhanden
sind. Aber ich habe noch immer ca. 45 Minuten Zeitvorsprung zu
meinem Plan. Erst einmal liegen und die Beine ausstrecken.
Essen will ich erst einmal nichts mehr – nur noch ruhen.
Lkw (Radtransport) und Bus für die Aussteiger sind sehr, sehr
verlockend. Immer wieder werden meine Blicke in diese
Richtung gelenkt. Jetzt aufgeben? Der Wunsch ist sehr stark.
Nach einer halben Stunde raffe ich mich dann erst einmal auf und wanke zur Verpflegungsausgabe.
Vielleicht nimmt der Magen noch was an, wenigstens dieses süße Wasser und ein Honigbrötchen.
Plötzlich steht Frank aus Hamburg vor mir und freut sich, mich getroffen zu haben.
Er ist erst nach 5:00 Uhr am Morgen gestartet und hat mich nun hier eingeholt - erstaunlich. Und ich
hatte dies ja auch so auf meinem Zettel notiert, nach Kenntnis seiner Fahrzeiten aus den Vorjahren. „17:00 Uhr: Frank in Hammarsundet“ – so steht es auf meinem Blatt.
Wir setzen uns noch mal hin und plauschen. Er bestärkt mich in meinem Wunsch, das Rad auf den
Lkw zu geben und das ganze Abenteuer an dieser Stelle zu beenden („... wenn’s nicht mehr geht. ...“).
Wir verabschieden uns mit den besten Wünschen und ich suche mein Rad auf dem zentralen
Parkplatz. Die Beine gehorchen wieder etwas und ich fühle mich durch die Stunde auch ein wenig
erfrischt. Kein Lkw und kein Bus, so die spontane Entscheidung, sondern ab auf 's Rad!
Der Wind kommt zwar von schräg vorn und das Profil ist auch recht wellig, aber es geht.
Einige Passagen muss ich, wie andere auch, schieben. Aber dann gibt es wieder Strecken, die bergab
gehen oder wenigstens schön flach sind. Ich spüre neue Kraft und einen zweiten Schub. Immer
kräftiger trete ich in die Pedale und nun überhole ich auch. Mit Blick auf GPS-Gerät und Uhr lässt mich
hoffen, mit viel Glück vielleicht doch noch knapp unter der 24-Stunden-Marke ins Ziel zu kommen.
Die Verpflegungsstelle in Medevi (km 282) ist an einem Hang, abseits von der Straße. Ich muss vom
Rad und will etwas zu mir nehmen - Kaffee mit viel Milch und eins von diesen Honigbrötchen. Ein
kurzer Plausch auf der Bank mit einer Truppe aus Berlin und dann schiebe ich mein Rad hinauf zur
Kontrollmatte, die ich genau 19:00 Uhr überquere. Ich habe noch 96 Minuten für 18 Kilometer. Das
scheint selbst in meiner derzeitigen Verfassung machbar. Innerlich bin ich jetzt mächtig aufgekratzt.
Die letzten Reserven mobilisiere ich und los. Wir fahren jetzt in einem weiten Bogen auf kleinen Feld-
und Waldwegen auf Motala zu. Die Straße, die viel kürzer wäre, haben wir verlassen. Aber hier im
Wald ist es windstill. Immer wieder anfeuernde „Heja, heja“-Zurufe und aufmunternde Schilder am
Wegrand.
Ich überhole etliche Sportler wie in Trance. Am Ortseingang von Motala dann rechts etwas
abseits das „Gelbe Haus“, dass mir die Mädels aus Rostock in Hjo als ihr Quartier beschrieben haben.
Ich will mal sehen, ob ich die Kennzeichen an den Autos erkennen kann ..., aber das ist plötzlich nicht
mehr notwendig. Jubelnd reißen zwei Mädels urplötzlich hinter dem Gartenzaun ihre Arme in die Höhe
und schreien aus vollem Hals „Mark-Klee-Berg, Mark-Klee-Berg!!!“ Dann wieder auf die große Straße
und ich trete wie ein Verrückter in die Pedale. Posten weisen den Weg durch die Stadt ... und ganz
ehrlich, es sind wohl tatsächlich Tränen des Glücks, die da über meine Wangen kullern.
Nur noch anderthalb Kilometer bis zum Ziel, als mein Handy klingelt. Sigrid ruft aus der Heimat an und
fragt nach meinem Zustand. Ich schreie ins Handy „Jetzt nicht, nur noch ein Kilometer!“ und lege auf. Nach 23 Stunden und 37 Minuten rolle ich über die Ziellinie und bin überglücklich. Ich habe es geschafft!
Ein Foto und die Medaille um den Hals, all das kriege ich so
nebenbei mit. Mein Abenteuer hat einen glücklichen Ausgang
gefunden. Essen kann ich jetzt nicht und es ist auch verdammt
kühl geworden. Langsam radele ich durch die Stadt, um am
Markt meine Urkunde zu holen und in der Schule meine
Sachen zu suchen, die ich unterwegs in Hjo abgeben hatte.
Es klappt alles wie am Schnürchen – perfekte Organisation.
Auf dem Campingplatz komme ich nun als einer der Letzten an
und werde dennoch beglückwünscht. Gleiche Glückwünsche
aber auch an all die anderen Finisher, die mit Bravour ihr Ziel
erreicht haben.
Ich fühle mich bestätigt in der Meinung, dass
es verdammt kalt in der Nacht war und dass auch der Wind
den anderen zu schaffen machte. Speziell meine Story des
Besenstiels erzeugt allgemeine Heiterkeit. Schon kurz nach
meinem Eintreffen beginnt es zu regnen und ein wunderschöner Regenbogen spannt sich über den Platz.
Meine kurze Bemerkung: „Das wäre jetzt aber nicht nötig gewesen!“.
Die Müdigkeit zwingt mich bald auf die Luftmatratze und ich schlafe tief und fest, begleitet vom
Trommeln der Regentropfen auf dem Zeltdach.
Sonntag, 17. Juni 2007
Nach einer erholsamen Nacht und einem ausgiebigen Frühstück (im Nachbarzelt bei den beiden
Erzgebirglern)
packe ich bei leichtem Nieselregen meine Habe und rolle gegen 11:30 Uhr vom Platz. Vor mit liegen
1.150 Kilometer, diesmal aber mit dem Auto.
Ich fahre diszipliniert die vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeiten und nun aber doch über Malmö
und Öresundbrücke nach Dänemark.
Ohne Probleme erreiche ich die Fähre in Rodby.
Bei der 45minütigen Überfahrt nach Fehmarn gibt
es auf dem Schiff nur ein Thema – die Vätternrundan.
Noch weit ist mein Weg über diverse Autobahnen ehe ich dann bereits am Montag gegen 1:30 Uhr in
Markkleeberg anlande. Es verlief auf der Heimfahrt alles ohne Stau und sehr zügig.
Werde ich 2008 wieder in Motala am Start stehen? Ich bin mir fast sicher. Was werde ich anders oder
besser machen? Will ich schneller fahren oder ein anderes Rad nehmen? Eigentlich ist Radwandern
so mein Ding und ich habe die Landschaft intensiv genossen. Schneller möchte ich gar nicht fahren,
nur die Zwischenstopps (gerade wegen der Panne) könnten etwas kürzer sein. Und ich würde auch
nicht „fremdgehen“ (bzw. -fahren), weil mein Drahtesel ein so treuer Begleiter auf vielen Touren war
und mich auch ganz toll über die 300 km der Vätternrundan brachte.
In diesem Sinne - Man sieht sich in Motala!
P. S. Möge
diese Veröffentlichung dazu
beitragen, dass sich wieder mehr Radwanderer auf die "Tour" wagen und
nicht nur Renner. Das war wohl ganz früher mal die Intuition der Veranstalter,
deshalb gibt es keine vergleichenden Zeittabellen, sondern immer nur abrufbare
Einzelergebnisse.
Fotos: Wolfgang Flohr und Jürgen Etling
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