Vattenfall-Cyclassics 2006 - Ehrlich fährt am längsten
Eigentlich war alles wie immer und doch war
wieder alles anders. Na klar, ich fuhr wieder viel zu spät daheim
los, geriet darüber in Stress, hatte Ärger mit der Elektronik, kam
unfallfrei durch, musste wegen Krämpfen eine Gehpause einlegen und
freute mich schon während des Rennens auf eine Schinkenwurst. Aber
das wie ist doch bemerkenswert.
In aller Seelenruhe fahre ich daheim los, lass
mein Auto stehen, radel gemütlich auf der Hauptstraße um nicht
wieder wie letzte Woche auf dem Radweg zu verunfallen. Ich wähne
mich in dem Irrglauben Zeit genug dafür zu haben. Um 8:25 Uhr sollte der Startblock
"F" abfahren. Ich starte mit dem Block "G" .
In Gedanken gehe ich den Tag schon mal durch.
Mein einziger ernsthafter Gegner wird der Besenwagen sein. Der
fährt direkt nach dem letzten Block mit durchschnittlich 31 km/h die
Strecke ab. Wenn ich also wieder unter 31 Schnitt fahre, rettet
mich nur die Zeit, die ich dank meines vorderen Startblockes vor ihm
abfahre davor, von ihm eingefangen zu werden.
Am Steintorwall angekommen fotografiere ich
die aus der Mönckebergstraße kommenden ersten Startblöcke. Als
ich einen genauen Blick auf die Startnummer werfe, trifft mich fast
der Schlag. Da steht "G" drauf. Ich habe eben den Start meines Blocks fotografiert. Und
nun?
Hinterher! Anders als bei einer RTF kann ich
mich nicht einfach anschließen, muss doch zuerst über die
Zeitschleife fahren und die lag meine ich immer am Ende der Mönckebergstraße. Den
gesperrten Steintorwall lassen mich die Ordner nicht überqueren.
"Sie müssen durch die Unterführung gehen." vernehme ich.
Mit meinem zum schnellen Gehen gänzlich
ungeeigneten Rennradschuhen mit nagelneuen, aalglatten Pedalplatten
drunter haste ich mit einem Arm am Geländer, den anderen am Rad
die Marmorstufen in die Unterführung runter. Auf der
anderen Seite angekommen bietet sich mir eine noch schwierigere Sachlage.
Neben dem nun abmarschbereiten Block H steht
die undurchdringliche Tribüne. Einen Moment lang will ich davor über die Absperrung klettern, lass das dann lieber, weil
es zu gefährlich wäre. Wenn in dem Moment der Block freigegeben
wird, komme ich unter die Räder.
Hinter der Tribüne werde ich an der
Absperrung zu Recht zurückgepfiffen. Kein zwanzig Meter
weiter kann man den Block einfach betreten. Nun stehe ich im Block I.
Ohne einen Meter zu rollen hat der
Besenwagen zehn Minuten auf mich gutgemacht.
Meinen Platz habe ich trotzdem noch nicht sicher. Ein Ordner will mich des
Blockes verweisen. "Sie müssen weiter nach hinten."
schallt es mir mit fester Stimme entgegen. "Warum denn
das?" "Sie gehören in den Block G. 'G ' ist weiter
hinten!" Hä? "G ist doch da vorne, da wo keiner mehr
ist." entgegne ich ebenso bestimmt. Der Ordner gerät zunehmend
unter Anspannung.
Er macht einen zweiten Anlauf mich weiter nach
hinten zu treiben. Ein zweiter Ordner eilt ihm zu Hilfe um den
renitenten Jedermann zu vertreiben. Beide
größer und jünger als ich bauen sich vor mir auf. Genervt spreche ich
ihnen das ABC bis zum Buchstaben
"I" vor. Es hilft nichts, also noch mal langsam. "A,
B, C, ..." Nun wirkt 's: Die beiden lassen von mir ab, ziehen bedeppert davon.
Gleich darauf wird für unseren
Block der Start freigegeben. Wie so oft schon war es mir wieder
durch eigenes Verschulden nicht vergönnt ruhig und konzentriert zu starten. Ich
bin trotzdem relativ unaufgeregt, lasse mich von einigen wild davonziehenden Radlern nicht verrückt machen, versuche mein
Tempo zu finden.
RTL Nord wollte mich begleiten. Ich lehnte
dies erst ab, hab kaum Zeit dafür unterwegs Interviews zu geben.
Auf meinen Vorschlag, Stefan von der Ahe ("Pedalritter Nord") mit seinem Charme und über
130 Kilogramm zu folgen, gingen die nicht ein, weil er nicht im
Sendegebiet, sondern in Niedersachsen wohnt.
Mein nächstes Angebot aus dem Kreis der
Haspanesen eine Gruppe zusammenzustellen, wurde ebenfalls abgelehnt. Nun suchte man verrückte Ersttäter.
Wir sind zu normal. Da fiel
mir gleich das TriTop-Bonanza-Team um Danilo samt den Leuten ein,
die ihre Fahrt auf so einem Schaustück in der MoPo gewonnen hatten. Die
Idee zündete am Telefon, hab aber nie wieder was davon gehört oder
gesehen.
Was mich dann fast umhaut, ist die mir eigentlich bereits aus dem Vorjahr (!) bekannte Neuerung,
dass erst ein Stück
hinter der Abbiegung in den Steintorwall die Zeitschleife liegt. Ich
hätte dort (unerlaubt) einfädeln und meinem Block G direkt folgen können!
Im Vergleich zu den Vorjahren geht es
erstaunlich ruhig los. Das liegt wohl daran, dass ich am Ende des
Blocks gestartet war. Das Gros der Heißsporne hatten sich selbst vorn
einsortiert.
Ich fahre nur mit einem provisorisch montierten
Reservetacho. Trotz mehrerer Telefonate mit der Hotline von
Ciclosport und zwei frischer Batterien war mein HAC4 letztlich total
ausgefallen.
Ich achte fast nur auf meine aktuelle Geschwindigkeit und das errechnete Durchschnittstempo. Letzteres darf am Ende nicht weit
unter 31 gefallen sein, sonst wird's eng. Für den Fall, dass ich
wieder Gehpausen einlegen muss, gilt es im Windschatten der anderen
ein Zeitpolster einzufahren.
Das ist anfangs auch kein Problem. weil sich immer wieder dafür geeignete Gruppen finden. Wenn ich die mit meinem
BMI größer 30 an einem Anstieg verliere, finde ich Anfangs schnell
von hinten kommenden Ersatz. Eine Zeitlang lutsche ich am Hinterrad
von Wolfgang Röckendorf, einem großen starken Mann der BSG Hamburg Wasser.
Ich mache erste Fotos und spreche mir Notizen
auf mein Notizgerät, bis das plötzlich ausfällt. Was denn?
Batterien plötzlich leer? Warum hab ich Trottel die nicht
vorsorglich gegen frisch ausgetauscht? Kann gar nicht sein. Das
Gerät hatte noch am Tag zuvor "voll" angezeigt.
Plötzlich lebt die Anzeige wieder, blickt mich mit wirren Zahlen an. Aha, es möchte von mir das Datum und die
Uhrzeit erfahren. Ja, wenn 's denn sein muss. Nun geht's wieder.
Sogar meine ersten Notizen sind noch da, bis ich die nächste
draufsprechen will und das Gerät endgültig ausfällt.
Just in dem Moment grüßt mich Nobbi aus
Bissendorf im Vorbeifahren. Dass es Nobbi war, erfuhr ich später im
Forum. Sorry, ich hatte in dem Moment keinen Blick für Dich, konnte
von da an keine Details mehr
notieren, nur noch Anhaltspunkte für diesen Bericht in Bildform mit der Kamera
ablichten. Memory für Fortgeschrittene.
Ich treffe meine Kolleginnen Silke Friedrich, die allein und doch
ganz locker unterwegs ist, und Alexandra Link, die ungewohnt
schleichend fährt. "Was ist los?" will ich wissen.
"Fahr nur weiter." ruft sie und lässt mich davonziehen.
Später fährt neben mir Bernd Kotoll, den ich am Trikot als
Haspanesen einordnen kann.
An Rädern ist auf der Mittel- und Langstrecke wenig ungewöhnliches
unterwegs. Nahezu alle fahren Rennräder neuerer Bauart. Um so mehr
fällt mir der Birdy-Red-Fahrer auf. Man kann mit so einem
vollgefederten Klapprad zwar recht flott fahren, trotzdem gebührt
ihm mein Respekt sich damit auf diese Distanz zu wagen.
Mein Helm mit schwarz-rot-geilem Hahnenkamm drauf bewirkt weniger
Begeisterung als ich erhofft hatte. Das liegt insbesondere daran,
dass ich meist längst vorbei bin, wenn die Zuschauer ihn entdecken.
Immerhin schallen mir ab und zu einige "Deutschland"-Rufe
entgegen. Im Gegensatz zu den RTF während der WM habe ich
einen Monat später außer mir niemand mehr mit Landesfarben
entdeckt.
Mein Schnitt fällt in der Nordheide an jeder Steigung langsam aber kontinuierlich von über 35 auf 33. Im Zentrum
wird er noch 32 betragen. Hoffentlich genug um auch auf der dann noch folgenden
55 Kilometer langen Schleife über Wedel den Besenwagen auf Distanz
zu halten.
Auf der Abfahrt nach Hamburg-Hausbruch zeigt
mein kleiner Tacho große Zahlen an. 60 km/h auf Hamburger
Stadtgebiet ist mehr als
mancher dort vermuten mag. Bergab von der Köhlbrandbrücke
geht's nicht so schnell. Die Steigung wie das Gefälle sind moderat
und so habe ich keine Mühe ihren Scheitelpunkt zu erreichen. Den
Ausblick hatte ich erst vor kurzem bei langsamer Fahrt auf der Fahrradsternfahrt
ausgiebig genossen.
In der Hafen-City kann es einem passieren, dass einem die Profis entgegen kommen. Genau das passiert mir jetzt.
Augen geradeaus und Konzentration bewahren hatte der Veranstalter
angeordnet. Ich schaue trotzdem ausgiebig hinüber. Das
beindruckendste für mich ist der Motorrad-Kameramann, der auf dem Sozius
deutlich erhöht Platz genommen hatte.
An der Felderteilung hinter der Speicherstadt
habe ich keinen Zweifel mehr, dass ich mich für die richtige
Distanz entschieden hatte. Meine Kräfte sollten reichen. Das Feld
dünnt sich erheblich aus, weil das Gros nur die 100er-Strecke
fährt.
Nach einigen Kilometern Alleinfahrt erspähe
ich vor mir einen Radler in unserer neuen Haspa-Teamkleidung. Es ist
unser Gastfahrer William Scott Burns, ein Texaner. Ihm zu Ehren wollten wir als Team
Haspa-International mitfahren, waren aber am Procedere der
Firmenanmeldung gescheitert. Das so sehr, dass ich eine neue Karte über ebay
erwarb, zufällig von Mark Booch, dem Inhaber der "Erste
Liebe Bar" auf der Fleetinsel.
Mit einem Radler im SPD Hamburg-Trikot und einem weiteren bieten wir uns bis Wedel meist zu viert gegenseitig
Windschatten. Das ist auch nötig, weil der Wind bis dahin kräftig
an unseren Kräften zerrt.
In Holm haben sich viele Kinder zum
Händeabklatschen am Straßenrand formiert. Das sieht nicht nur toll
aus, das macht auch Spaß. Leider ist auch in Holm die Zuschauerdichte
nicht annähernd so groß wie in den Vorjahren.
Von der 55er-Runde wurde berichtet, dass die
Stimmung wie immer toll war. Wenn ich hier als einer der letzten
durchkomme stehen schon die Leute da, die sich auch die Profis
anschauen wollen. Davon giebt 's in diesem Jahr Dank der Herren Ulrich
und Landis deutlich weniger.
Ungedopt war ich nun schon viereinhalb Stunden unterwegs. Anders als so mancher Profi greife ich nur zu
leistungsmindernden Drogen, hatte am Vortag auf einem
50ten-Geburtstag einige Biere geleert und Schnäpse gekippt. So
viele, dass ich nachts gleich einschlief, allerdings nicht so viele, dass ich
sie jetzt noch spüren würde.
Meine zweite leistungsmindernde Droge ist das
Nikotin, von dem ich zweifelsfrei abhängig bin. Nach dem Aufstehen
daheim rauche ich nicht. Auf dem Rennrad mit Helm zum Start fahrend
hätte selbst mir das zu blöd ausgesehen. Direkt vor dem Start
hatte ich anders als geplant keine Zeit dafür. Nun hat mein Körper Streß, weil ich
seit dem Aufstehen schon sieben Stunden nicht geraucht habe.
Außer auf zwei koffeinhaltigen Squeezy-Gel auf
den letzten 20 Kilometern nehme ich nichts leistungsförderndes. "Ehrlich fährt am längsten" schießt
mir durch den Kopf. Beim Anstieg auf den Elbhang mag ich nicht
mehr mithalten. Die Luft ist bei mir raus. Da nutzt es auch nichts,
dass mich Stefan Krogmann vom Wegrand anfeuert.
Wenig später verkrampft schlagartig mein rechter Oberschenkel. Pedalieren kann ich nicht mehr, aber das kenn
ich ja, will absteigen und eine Gehpause einlegen. Das geht anfangs
auch nicht, weil jeder Versuch den Fuß aus dem Systempedal zu drehen
eine Krampfattacke auslöst.
Ich schüttele das Bein in den Pedalen stehend
aus, bis ich den Schuh aus dem Pedal bekomme, rolle an den Kantstein
ran. Da stehen zwei Jungs, betteln nach leeren Flaschen. Sieben
haben sie schon zusammenbekommen, aber was will bloßder Radler,
der langsam auf sie zurollt, scheinen sie sich zu fragen.
"Flasche?" Nein, ich muss mich nur erholen, nutze die
Pause für ein Foto. Als Mitlied der Generation 40++ hab ich als
Jugendlicher vom "Flower Power" geschwärmt. 30 Jahre später ist mir nur
"flauer
Power" geblieben.
Nun soll es erst so richtig steil werden. Der Kösterberg liegt vor mir. Zu meinem Erstaunen komme ich problemlos
drüber weg, wo ich andere schieben sehe. Am Elbhang rauf zum
Jenischpark, an dem ich schon oft zu verzweifeln drohte, dann das
gleiche Bild. Vor mir schiebt Wolfgang, mein Wassermann. Auf diesem Stück fahren die Profis später eine
Sprintwertung aus. Respekt!
Was danach kommt, kann mich nicht mehr
erschüttern. Den Besenwagen habe ich besiegt. Ich genieße den
Blick auf die Elbe, freue mich auf
die Zieleinfahrt durch die jubelnden Zuschauermassen.
Mir fällt
auf, dass der Mann neben mir einhändig fährt, den linken Arm
angewinkelt am Oberkörper hält. Sein Gesicht ist verschrammt. Na klar, der war übel gestürzt. Später
fährt er direkt vor mir über die Ziellinie und leider erst noch
später wird mir bewusst, dass er dies mit einem Schlüsselbeinbruch
tat. Schade, wäre ich und mein Diktiergerät nicht so kaputt gewesen, hätte ich in
sicherlich interviewt und aus anderer Perspektive mit Blick auf
seinen Arm fotografiert.
Das toppt ein anderer Fahrer, der sein verbogenes Rad geschultert
tragend die Reeperbahn entlang gehend gesehen wurde. Ein anderer
Teilnehmer berichtete mir, dass er sein Rad über die Ziellinie
getragen hat. Die meisten anderen wären nach so einem Sturz wohl in
die nächste S-Bahn gestiegen. "Mission erfüllt." wird er
vielleicht beim Gang über die Ziellinie gedacht haben. Kaum zu
glauben, wozu Adrenalin einen antreiben kann.
Wir
Jedermänner haben im Jahr 2006 wohl mehr Fans als die Profis
mobilisiert. Bis zum Rathaus sind die Absperrungen nur mit wenigen
Zuschauern gesäumt. Auf der Tribüne sind große Blöcke leer.
Relativ wenige Leute sitzen dort um uns Nachzügler und die Profis
zu sehen.
Mir sind zwei persönliche liebe Fans
geblieben. Matthias und Stefanie "Steff" Meyer jubeln mir
hinter der Absperrung stehend zu. Im letzten Jahr hatte
Fitness-Trainerin Steffi mir Ernährungstipps zugesagt und
zugeschickt. Das Problem ist, dass man die nicht nur lesen, sondern
auch befolgen muss. So brachte ich denn noch etliche Gramm mehr als
2005 auf die Waage.
Um ungefähr 13:45 Uhr würde ich hier durchkommen, hatte ich Matthias morgens gesimtst. Die Uhr zeigt 13
Uhr und 42 Minuten an. Meine Nettofahrzeit beträgt fünf Sunden und
neun Minuten mit einem Schnitt von 30,1 km/h. Damit bin ich
zufrieden, nicht mehr und nicht weniger.
Am Burkhardplatz treffe ich Alex wieder. Sie ist gut drauf, umarmt mich
fröhlich. Während des Rennens ging 's ihr tatsächlich nicht so
gut. Statt der fest geplanten 155er- war sie irregulär nur die
100er-Runde gefahren.
Nur vier Liter hatte ich bei der Hitze getrunken, davon drei aus
meinem Trinkrucksack. Dank dem konnte ich an den
Verpflegungsstationen einfach vorbeifahren. Meine Freude auf was
frisches am Ziel wird enttäuscht. Aus Hella-Bechern gibt es nur
noch Leitungswasser zu trinken.
Mein üblicher Heißhunger auf eine Schinkenwurst nach dem Rennen wird
vorerst ebenfalls nicht befriedigt. Mich zieht 's zu Matthias und
Steffi an den Bierstand auf dem Rathausmarkt.
Im Gewusel der Radfahrer falle ich mit meinem
Hahnenkamm noch immer auf. Erschöpft und wohl deshalb
willensschwach lass ich mich von Bild-Hamburg zum Affen machen. Mit
zwei Bananenstücken am Mund lasse ich mich fotografieren. Das Bild
wurde nicht gedruckt. Gut so.
Da das Beweisfoto fehlt, müssen halt Zeugenaussagen belegen, dass es im Jahr 2006 einen
radsportverrückten deutschen Patrioten gab, der diese Cyclassics
bei 33 Grad im Schatten mit einem Stück schwarz-rot-goldenen Stoff auf dem Helm fuhr.
Meine insgesamt 58 Bilder im Großformat von den Vattenfall Cyclasscis 2006 findest Du hier.
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