HEW-Cyclassics
2005: Tretet kräftig rein, dann werdet ihr
die Sieger sein
Schon bei der
Hinfahrt von daheim mit dem Rad gab es einiges zu sehen, z. B. den
Radfahrer, dem in seinem Rucksack die Kohlensäure den
Deckel von seiner Trinkflasche absausen ließ. Bis er die Ursache
für den Knall bemerkt hatte, abgestiegen war und den Rucksack
geöffnet hatte, war seine Ausrüstung völlig durchnässt.
Er trug es mit Fassung.
Einen anderen sah
ich auf einem massiven Stahlross in Richtung Start für die Kurzstrecke
abbiegen. Einen Moment lang fragte ich mich, wie er das mit dem Rad
schaffen will. Die Antwort gab mir ein Blick auf seine
mächtigen Waden. Einige Radsportler trugen stolz ein
HEW-Cyclassics-Trikot mit dem Aufdruck "1996 bis 2005". Das gab es
für die Teilnehmer die schon damals dabei waren und jedes Jahr
dabei geblieben sind.
In meinem
Startblock B beäugt man sich unauffällig. Ich gehöre dort
eigentlich nicht hin, zwischen all die Leute, die einen Schnitt um
die 40 km/h fahren werden. Dorthin gelangt bin ich durch einen
Startplatztausch.
Ich hatte mich vermeintlich wie im Vorjahr für die
Langstrecke gemeldet, mit der
vermeintlichen Option mich noch während des Rennens für die
Mittelstrecke umentscheiden zu können. Dann erfuhr ich, dass upsolut das
Reglement geändert hatte. Man musste sich vorher festlegen. Das hatte der
Geschäftsführer unserer Sportgemeinschaft bereits für mich getan, weil ich ja in der Firmenmeldeliste die Langstrecke angekreuzt hatte.
Wie sollte ich die
in diesem Jahr wieder schaffen, so schlecht in Form wie ich aus dem
Winterhalbjahr gekommen war? Schon in den Vorjahren hatte ich den
Besenwagen drohend vor meinem geistigen Auge gesehen, hatte mich
zwei Mal nur mit schweren Krämpfen ins Ziel retten können. Nur
eine Woche später will ich mit dem Holsten-City-Man den für mich
schweren ersten Triathlon absolvieren. Da kann ich einen Muskelkater
vom Radrennen nicht gebrauchen, also tauschte ich meinen Startplatz
gegen den für die Mittelstrecke.
Im Gegensatz zu
manchem Vorjahr kam ich frühzeitig beim Start an, kann mir so den
Start der Promis und des Block A anschauen, von meinem Block B hab
ich es ja nicht weit dorthin. Es beginnt ganz entspannt mit den Promis,
die sicherlich nicht lange die Führung behalten werden.
Vorneweg fahren ein PKW und ein Motorrad, darüber fliegt ein
Hubschrauber.
Das Feld ist bunt
gemischt, reicht vom Ex-Telekom-Profi Bert Dietz, der die 100
Kilometer mit einem Schnitt von 39,5 absolvieren wird, bis zu dem
total übergewichtigen Bild-Zeitungs-Mitarbeiter, der am ganzen
Körper vor Schweiß glänzte, als ich ihn nach wenigen Kilometern
überholte.
Kurz darauf folgt
mit dem Block A die Fahrer und Fahrerrinnen, die um die Plätze auf
dem Siegertreppchen fahren. Der Starter mahnte alle zu Ruhe und
Umsicht. Man solle die ersten Kilometer ruhig angehen, es wird schon
nichts anbrennen. Mit Erfolg. Das Feld nimmt langsam Fahrt auf, obwohl manche aussehen, als ob sie bis in die
Haarspitzen voll Adrenalin wären.
Als unser Block an
der Reihe ist, tun wir es unsere Vorderleuten gleich, rollen uns
langsam ein. Zwischen all den schnellen Leuten habe ich Mühe eine
geeignete Gruppe zu finden, die ich dann auch prompt bald wieder
verliere.
Diese Problem wird
mich auf der ersten Hälfte der Strecke verfolgen. Immer wieder
kommen große, für mich viel zu schnelle Felder zu mir rangeflogen.
Obwohl ich frühzeitig das Tempo erhöhe, um mich dranzuhängen,
kann ich oftmals nicht lange folgen. Mein Big-Boss Rainer Remke
sprach später von "Express-Zügen", die an einem vorbei
rauschten.
Immerhin sind die
die Fahrbahn querenden Eisenschiene in diesem Jahr perfekt mit
Quarzsand ausgefüllt. Nicht eine verlorene Flasche sehe ich auf der
Straße liegen. Das mag aber auch an Vorbereitung der
Radsportlern in den vorderen Blöcken liegen. In den hinteren
Reihen stehen immer wieder Teilnehmer, die auf unebener Fahrbahn
Trinkflaschen und Luftpumpen verlieren.
Im Startblock C
hatte ich eine Gruppe von zig rennradfahrender
Vattenfall-Mitarbeiter gesehen. Bei Kilometer elf überholen mich die
schnellsten. Ca. 20 Vattenfäller rauschen an mir vorbei.
Die Block-Nummer der mich überholenden Radsportler wird danach
weiter ständig höher.
Wir überqueren
die herrliche Brücke des 17. Juni und der Wind bläst uns ungehemmt
entgegen. Meine Vorderleute habe ich mal wieder verloren, dafür lassen sich
nun andere bei mir lächerlich erscheinenden 31 km/h gegen den Wind
über die Brücke ziehen.
Kurz vor dem
Phönix-Center in Harburg stehen recht vor einem Fitness-Center
zahlreiche Indoor-Cycling-Bikes auf dem Fußweg, werden mit lauter Musik
beschallt. Alle Räder sind mit im
Stand radelnden Zuschauer besetzt.
Bei Kilometer 23
überhole ich die ersten Promis. Nun geht es in die hügelige
Nordheide. Die hatten viele gefürchtet, weil die Lang- und
Mittelstrecke in den Vorjahren statt dessen überwiegend flach an
der Elbe südlich Hamburgs entlang führte. Mir kommt es so nicht
schwierig wie befürchtet vor, vielleicht weil ich etliche durch die
Nordheide führende RTF mitgefahren hatte.
Der Wind erwischt
einen hier auch nicht so stark wie am Deich, weht aber heute so
kräftig, dass
er auf der Fahrt nach Süden immer wieder das Tempo sinken lässt.
Dafür ist es trocken und angenehm warm. Einen Moment lang empfinde ich
die Sonne gar als brennend.
Bei Kilometer 30
fühle ich mich einen Moment lang recht einsam. Außer meinem Vordermann
ist weit und breit niemand zu sehen. Wo sind bloß die anderen 19.998
Teilnehmer abgeblieben? Dieses Gefühl kenne ich aus den Vorjahren
erst ab der Feldertrennung, wenn ich als einer der letzten auf die
Zusatzschleife für die Langstreckler ging.
Woran
liegt 's? Wohl
insbesondere an den breiteren Straßen, über die die neue Strecke
führt. Man kennt das ja von den Autobahnen. Wenn die sechsspurig
ist, entflechten sich große Ansammlungen von Verkehrsteilnehmern
viel schneller. So kann man auch auf diesen Distanzen in diesem Jahr erstmalig
nahezu ständig ohne warten zu müssen überholen. Sehr voll dürfte
es hingegen auf der Kurzstrecke zugegangen sein, auf die von Jahr zu
Jahr immer mehr Teilnehmer geschickt wurden.
Die neue Mittel-
und Langstrecke
führt durch ein relativ dünn besiedeltes Gebiet. Dementsprechend
stehen kaum Zuschauer an der Strecke. In einigen Dörfern und Orten
feiern die Leute Cyclassics-Partys, so zum Beispiel in Jesteburg,
wo uns viele Leute applaudierten. In Holm lässt mich Bratwurstduft
aus dem Tritt kommen.
In Holm-Seppensen
rauscht Axel Loos vom TSV Bremervörde grüßend an mir vorbei. Er war so schnell, dass
ich ihn nicht erkannte, er mir seinen Namen zurufen musste. In Seppensen
sehe ich zwei "Müllmänner" von der Stadtreinigung
Hamburg mit einem tollen, passenden Aufdruck auf ihrem Trikot,
"Re-Cycling-Team"
steht darauf.
Kurz vor der
Verpflegungsstation zieht der erste Haspa-Team-Kollege an
mir vorbei. Er grüßt, aber ich erkenne ihn nicht, spreche mir
seine Startnummer auf Band. Die 31331 hab ich dann allerdings in
keiner Ergebnisliste finden können. Hier wird die Strecke zum
ersten und einzigen Mal eng, allerdings derart, dass einige Fahrer bedrohlich nah
an mir vorbei schießen.
Der
Fülle auf der Straße steht zu meiner Überraschung eine kaum in
Anspruch genommene Verpflegungsstation gegenüber. Zumindest zu dem
Zeitpunkt kommt dort jeder sofort dran.
Bei Kilometer 50
habe ich die Orientierung verloren. "Bin ich schon in
Buchholz?" frage ich einen Zuschauer an einem Ortseingang. Vor dem Abschnitt mit der
Sprintwertung sollten dort unsere Fans und Arbeitskollegen Detlev und Marion an der Strecke stehen.
Ich würde sie gern im
vorbeifahren ablichten. "Ja." schallt es zurück. Also,
Kamera aus der Trikottasche rausgefummelt und schon mal ein erstes
Probefoto geschossen.
Als ich die Kamera
wieder absetze, sehe ich die beiden laut johlend am Straßenrand
direkt vor mir stehen. Ich reiße die Kamera hoch, bekomme aber nur
noch Detlevs winkenden rechten Arm auf 's Bild. Immerhin sind die
beiden nun hinten auf dem Probebild zu entdecken.
"Tretet kräftig rein, dann werdet ihr
die Sieger sein" lese ich auf dem Transparent eines Zuschauers.
Den Satz spreche ich mir auf mein Diktiergerät. So um
die 40 Notizen, teils mit keuchender Stimme gesprochen, finde ich
später auf dem Gerät vor. Ohne diese wäre dieser Bericht nicht so detailliert
ausgefallen, zu mal ich ihn erst zehn Wochen später geschrieben habe.
Gründe für diese erhebliche Zeitspanne gab es viele, einige sind
privat; einer war, dass mich die Cyclassics in diesem Jahr emotional
nicht so berührt haben.
Mein erster
Triathlon eine Woche später war mir viel näher gegangen. Erstens
hatte ich mich dafür wohl unterschwellig während der ganzen
Cyclassics-Fahrt
geschont, zweitens vermißte ich doch die Langstreckenschleife, die
ich mir ja wegen des Triathlon verkniffen hatte. Hätte man sich
wie in den Vorjahren noch während des Rennens umentscheiden
können, wäre ich sie eventuell trotz meiner schlechten Verfassung noch abgefahren.
Dies hätte mich den kräftigen Regenschauer auf dem Rad erleben
lassen, der uns unter die Sonnenschirme trieb und die Profis des
Gros ihrer Zuschauer beraubte. Drittens war es meine
siebente Teilnahme bei den Cyclassics. Bei den anderen hatte ich
mich selbst mehr gefordert.
In Dibbersen
erreichen wir das "Dach der Tour". Eine nette Dame ruft mir zu
"Nur noch wenige Meter". Wäre nicht nötig gewesen, bei
meinem Tempo habe ich keine Mühe den Gipfel zu erklimmen. Es folgt
eine rasende Abfahrt nach Leversen, wo wir mit Megaphonen empfangen
werden. War ja nett gedacht, aber ohne rufende Zuschauer sind mir
lieber.
Dann erleben wir eine
Super-Aktion des Hotel Cordes in Sottorf: Erdinger Weißbier
alkoholfrei für Cyclassics-Teilnehmer nur 50 Cent steht auf einem
Schild am Straßenrand. Kurz darauf noch so ein
Schild. Dann kommt das Hotel und ... Bingo! Da stehen doch
tatsächlich drei Rennradfahrer davor am Bierstand mit einem
Glas in der Hand. Die Jungs sind mir sympathisch.
Die
Steigung in Vahrendorf stürme ich hinauf. Viel Applaus und laute
"Haspa! Haspa!"-Rufe beflügeln mich. Als nächste
Kollegen schließen Michael Führich und Henning Moehle zu mir auf.
Wir wechseln ein paar Worte bis sie davonziehen. Zwei weitere
Kollegen überholen mich, bevor ich sie nach ihren Namen fragen kann.
Noch bei Kilometer
80 fühlte ich mit fit, bereute auf die Mittelstrecke umgemeldet zu
haben, dann aber setzten bei mir mal wieder Krampfattacken ein und
auch insgesamt schwinden langsam meine Kräfte. Während ich immer
mehr nachlasse, zieht mit Michael Vay der nächste Kollege mit einem
"Haspa. Auf geht's" vorbei. "Da geht gar
nichts." denke ich mir. Andere trifft es viel härter. Vor mir
sehe ich einen Radler immer langsamer werdend rechts ranfahren. Als
er am Kantstein ankommt, fällt er stumpf nach rechts um. Er hat
nicht mal mehr die Kraft seinen Sturz abzufedern, rollt aber zum
Glück recht gut ab.
Der
arme Kerl hat das Rad noch zwischen den Beinen, hebt hilfesuchend
einen Arm und blickt die Straße entlang. Wohl ganze Heerscharen
nachfolgender Radsportler werden noch an dem armen Kerl vorbei
gefahren sein. Es ist
gefährlich scharf zu bremsen oder gar zu wenden, um ihm auf die
Beine zu helfen. Hoffentlich hat ihn bald jemand frühzeitig
erspäht und ist zu ihm rangefahren. Meine
Arbeitskollegen erzählten mir später von vielen teils schweren Stürzen. Ich
selbst hatte Glück, sah nur den einen aus der Entfernung.
Die Abfahrt den
Ehestorfer Heuweg runter und die Fahrt über die Köhlbrandbrücke
sind toll, empfinde sie aber nicht so berauschend wie bei den ersten
Malen. Spannend find ich dafür in diesem Jahr die Fahrt durch den
Freihafen. An dessen Ende werden uns Jedermännern und -Frauen das Profi-Feld
auf der Gegenspur entgegenkommen. Deren Position ist ständig an den
darüber kreisenden Hubschraubern zu erkennen. Fünf Stück sehe ich
vor mir über der City kreisen. Ob ich ich den Profis wohl noch
begegnen werde?
Über
diese Frage schwindet mal wieder meine Konzentration auf unser
Rennen und ich werde wieder langsamer. Meine bummelige Fahrweise
ermöglicht es meinem zuschauenden Arbeitskollegen Manfred Paul mich
verhältnismäßig ausgiebig anzufeuern und nun ziehen auch noch
Kollege Henning Koller mit Bald-Ehefrau Susanne vorbei. Genutzt hat
es nichts. Als ich in die Ludwig-Erhard-Straße abbiege, haben sich
die Profis noch nicht bis zum Freihafen vorgekurbelt.
Wir umfahren die
City samt den gestarteten Profis und biegen in die lange
Zieleinfahrt ein. Schon am Großen Burstah stehen größere
Menschentrauen. In der Mönckebergstraße erwarten uns dann wahre
Zuschauermassen. Die mit mir ankommenden Radler sind so weit von mir
entfernt, saß ich sogar hier während der Fahrt fotografieren kann.
Nach drei Stunden, zehn Minuten und zehn Sekunden komme ich mit
einem Schnitt von 31,6 ins Ziel.
Weitaus
eindringlicher als den Zieleinlauf empfinde ich das anschließende
Widersehen mit meinem Schulfreund Matthias Meyer auf dem
Rathausmarkt. Dafür hab ich mir sogar die kostenlos angebotene und
sehr zu empfehlende Massage verkniffen. Mit ihm und seiner Tochter,
der Fitnesstrainerin Steff Meyer kippe ich ein paar Biere und
sinniere über das Leben im allgemeinen und die Cyclassics im
speziellen.
Vorher war ich
noch kurz zur Ludwig-Erhard-Straße zurückgekehrt, um Haspanesen zu
fotografieren. Als ich mich noch in Position brachte, kam Alexandra
Link an mir vorbei gehuscht. Zehn Minuten lang wartete ich dann auf das
Motiv "rollendes Haspa-Trikot von vorn". Vergeblich.
Neben
dem Stand mit den noch in der Ausbildung befindlichen Masseuren
reparierte das Berufsförderungswerk unermüdlich defekte Räder.
Mein Rad war zwar nach dem Rennen noch O.K., Dir wie gewohnt ein
Tachoprotokoll liefern kann ich trotzdem nicht. Beim
Holsten-City-Man hat mir ein "Sportsfreund" den Tacho samt
dem noch nicht runtergeladenen Protokoll geklaut.
Vielleicht hast Du
nun den Eindruck, das Jedermannrennen bei den HEW-Cyclassics 2005
plätscherten so dahin. Dem war nicht so. Es war eine
Radsport-Veranstaltung der Superlative, die für tausende Teilnehmer
ein unvergessliches Erlebnis bleiben werden. Das erlebt nur halt
jeder anders und ich war sicherlich in diesem Jahr ein besonderer
Sonderfall.
Auf
der Mittelstrecke verlangt einem der Besenwagen mit 26 km/h einen erheblich niedrigerer Schnitt
ab als auf der Langstrecke. Ich hätte also viel Zeit für
Fotopausen gehabt, wie ich es mal vorgehabt und hier versprochen
hatte. Sorry, aber dazu hatte ich dann doch einfach keine Lust.
Welches Motiv lohnend erschien, erkannte ich auf der neuen Strecke
immer erst dann, wenn ich schon dran vorbei war. Ausfädeln,
anhalten, wenden
und langsam zurück durch die Zuschauer schieben war dann doch nicht
mein Ding.
2006 werde ich
sieben statt eine Woche Zeit haben, um mich bis zum
Holsten-City-Man-Triathlon zu erholen. Das dann
Vattenfall-Cyclassics genannte Radrennen werde ich dann auch
deshalb wieder sportlicher angehen. Ich werde mich für die
Langstrecke anmelden, um mich selbst unter Druck zu setzen und nicht
wieder unterwegs zu bummeln. Um unterwegs ein paar Bilder zu schießen
und mir Notizen ins Gerät zu sprechen, muss es auch so reichen.
|