HEW-Cyclassics
2004: Nicht die Strecke tötet, sondern das Tempo
Kösterberg:
Gleich zu Beginn des Anstiegs steig ich freiwillig vom Rad. Meine
Oberschenkel wollen schon seit Kilometer 120 nicht mehr mit mir
mitfahren. Immer wieder brauchte ich Gehpausen, um
meine Muskulatur
zu lockern, insgesamt 20 Minuten lang. Meinem Kreislauf geht's gut.
Kondition und Konzentration sind O.K., nur diese sch... Beine.
Glücklich
darüber, dass ich ohne einen Krampf zu bekommen mein rechtes Bein
über das Rad bekommen habe, komme ich zum Stehen. "Da geht noch
was." hatte mir in der City eine hübsche Dame augenzwinkernd
zugerufen. Jetzt geht nichts mehr. Beide Beine verkrampfen total.
Die Knie zwangsweise fest durchgedrückt, stehe ich wie angewurzelt da,
muss
mich am Lenker festhalten.
Es dauerte einige
Zeit, bis ich ein Knie nach vorne drücken kann, dann das
andere. Kurz darauf kann ich wieder gehen, allerdings
recht wackelig. Eine Dame kommt auf mich zu, fragt besorgt, ob Sie
mir Hilfe rufen soll. "Nein, nein, das geht schon. Bald kann
ich wieder normal gehen und wenn ich oben angekommen bin, fahre ich
wieder." entgegne ich. "Das sah aber schlimm aus."
sagt sie. "Das war es auch." resümiere ich.
Tapfer schreite
ich voran, fotografiere die gutgelaunten Zuschauer. Einer
erkennt mich, ist regelrecht aus dem Häuschen darüber, will
unbedingt auf dieser Seite nach dem Bild schauen. Wer hätte
gedacht, dass auch entkräftete Rennrad-Fahrer Fans haben
können?
"Helmut, quäl Dich!"
hatte Henning Möhle (ORG) mir im Vorbeifahren zugerufen. Das war
noch weit vor Harburg. Da ahnte ich noch nicht, dass es dazu kommen
würde. Tags zuvor hatte ich Ralf Schönfeld (ORG) am Telefon erzählt,
dass ich die Tour genießen wollte und Zeit genug für einige
Fotopausen haben würde.
Woran
lag 's, dass
ich in diesem Jahr so schlecht durchkam? Aus der Erfahrung des
Vorjahres klüger geworden, hatte ich wohl genug getrunken. Statt
meines Trinkrucksacks hatte ich drei Liter Flüssigkeit in Flaschen
an Board. Die ersten Krampfattacken setzen schon bei Kilometer 80
ein. Bis dahin hatte ich viel von dem Gesöff aus stillem
Mineralwasser mit Apfelsaft zu mir genommen..
Einer der Gründe
war sicherlich, dass das Rennen für mich mal wieder zu Hause
begann. Ich wollte mich gemütlich auf dem Weg zum Treffpunkt einrollen, hörte plötzlich, wie
hinter mir etwas
metallisches über den Asphalt hüpfte. Entsetzt stellte ich fest, dass
das ein Inbusschlüssel aus meiner geöffneten Satteltasche war, auch meine Zigarettenschachtel samt darin befindlichen Feuerzeug, Bargeld und EC-Karte fehlte.
Also, zurück und
alles abgesucht. Die Schachtel fand sich dann daheim auf dem
Küchentisch an. Statt nun direkt zum Start zu fahren, fuhr ich als
treues Mitglied der Betriebssportgruppe gegen die Uhr erst zur Haspa,
wo keiner mehr war und erst dann zum Start zum Block F. Keine zwei
Minuten später fuhr unser Block ab. Nur ich blieb stehen, musste
noch die Stopuhr und die Tachoaufzeichnung starten, mich dabei
beeilen, um nicht vom nächsten Feld überrollt zu werden.
Von Andreas Klöden stammt der Satz, gute Beine hast Du, wenn Du morgens schmerzfrei
die Treppe runterkommst. Ein schlechtes Omen, denn so richtig
energiegeladen hatte ich mich dabei nicht gefühlt. Es begann aber alles
recht zügig und doch locker. Kurze Zeit darauf Schloss ich zu
Torsten Köneke (IS), Jürgen Kieserling (RB Nord-Ost), Michael Lewandowski
und Marco Rohrer (beide PME) auf. Alle waren gut drauf, weil ich mich
stark fühlte, mir auf Dauer aber zu langsam. Wer schneller ist wie
ich, der ist gedopt, schoss es mir durch den Kopf.
Später
überholte ich
Gabriele Matern (Gast IS), erreichte dann
Ralf Schönfeld, dem ich von meinem morgentlichen Malheur berichtete.
"Das machst Du doch bestimmt nur, um was zu schreiben zu haben."
frotzelte er.
Es war schwer
über eine lange Zeit Anschluss an einem Feld zu halten. Die meisten Leute
fuhren einfach zu unruhig, mal schnell, dann wieder langsam.
Vermeintliche Gruppen bildeten sich so schnell, wie sie wieder
zerfielen. Als Ausgleich für meine Motivation vernahm ich oftmals "Haspa"-Rufe,
sah und hörte "Rasselbanden", eine Oma, die uns in
Ermangelung einer Rassel mit einem Gong anfeuerte und Leute die dies
mit Hupen und lauten Sirenen taten. Nicht nur in Schenefeld, Holm und
Wedel waren die Menschen in Party-Stimmung.
Auf den Trikots der Leute vor mir lese ich die Namen
vieler großer Hamburger Betriebe, wie Beiersdorf, Philips und HEW.
Ein Teilnehmer hatte doch tatsächlich das offizielle
Baumwoll-T-Shirt übergestreift, dass jeder Teilnehmer mit den
Startunterlagen erhält. Das ist zum Radfahren völlig ungeeignet,
wird von mir zur Gartenarbeit angezogen.
In Bergedorf
mischt sich ein dem Publikum bekannter Depp im Baumwoll-Shirt schwer tretend auf
seinem Bahnhofsrad unter die Hobbyrennfahrer. Kurz darauf musste das
Glunz-Gebäude kommen. Hier hatten mich meine Arbeitskollegen Marion und Detlev (beide
ORG) im vergangenen Jahr angefeuert. Marion war nicht
sicher, ob sie es wieder rechtzeitig schaffen würden. Für den
Fall, dass, hatte ich eine Überraschung angekündigt.
Mein Blick scannte
die Zuschauerreihen links ab, konnte sie nicht entdecken. Schade!
Doch da, ein Schrei, ein Jubel, sie standen auf der anderen Seite. Eigentlich wollte ich
aus dem Feld ausfädeln, um
anzuhalten und unsere
enthusiastischen Fans abzulichten. Genau in dem Moment wurden wir von einem großen Feld überrollt.
Unsere Gruppe wurde links und rechts
überholt. Ich machte mich ganz schmal, um nicht vom Rad geholt zu werden.
Plötzlich höre
ich einen Knall vor mir, als ob jemand der Reifen geplatzt wäre. Alle hielten angespannt nach dem Havaristen Ausschau. Schon
sah ich links im Augenwinkel wie ein Radler über den Lenker vom Rad
absteigt, das Rennen laut fluchend auf dem Po rutschend fortsetzt.
Zurück gegen den Strom um ein Foto zu schießen? Sicherlich nicht. Vielleicht gelingt
es mir im nächsten Jahr auf einem anderen Streckenabschnitt einige unserer Fans abzulichten.
Die Resultate schwerer Stürze sah ich dann in
und kurz hinter Drage, erst einen Mann mit dickem Kopfverband benommen auf einer Trage sitzend, wenige hundert Meter weiter einen anscheinend
bewußtlosen Mann eingewickelt in eine Rettungsdecke
auf einer Trage am
Straßenrand liegend. Ist es das wert? Warum nehmen einige Irre das Wort
Jedermannrennen wörtlich? Was wollte denn z. B. der Teilnehmer
gewinnen (Startnummer 3083),
dessen Armbehaarung ich spürte, als er mich mit Tunnelblick
überholte?
Das DRK hatte wohl
viel zu tun an diesem Tag. Damit nicht noch mehr passierte, sorgten Helfer
der FF samt Jugendfeuerwehr, des THW und der Polizei für
Sicherheit, waren Verkehrsinseln mit Heuballen abgesichert, Schienen
abgedeckt oder verfüllt worden.
Nachdem wir die
Elbe gequert hatten, blies uns der Wind ungeschützt am Deich fahrend
mit Stärke 3-4 entgegen. Das Teilnehmerfeld wurde immer mehr
auseinander gerissen und ich fuhr erstmals ab und zu allein. Dabei
erwies es sich als besonders störend, dass ich morgens vergessen
hatte den Brustgurt meines Pulsmessers anzulegen, mir deshalb ein
wichtiges Kontrollinstrument fehlte. Die Temperatur lag dabei bereits bei 30 Grad.
Den langen Anstieg über die
Schwarzenbergstraße in die Harburger Berge schaffte ich trotzdem
noch mit Anstand. Bis dahin hatte ich einen Schnitt von 36 km/h
gefahren, dann aber wollten meine Beine nicht mehr so wie ich. Ich
hätte meinem Körper wohl wie im vergangenen Jahr bereits Tage
vorher massiv Magnesium zuführen sollen. So aber war ich froh, dass
ich auf der Köhlbrandbrücke einige Schritte gehen konnte, wo ich
ohnehin absteigen wollte, um einige Fotos zu schießen.
"Komm mit!" hörte ich den vorbeifahrenden
Ha.-Jo. Wullschläger. Ha.-Jo. kenne ich vom Trainings-Treff des NDR
an der Landesfeuerwehrschule. Er
ist ein konstanter Fahrer, der in etwa gleich stark wie ich fährt.
Von seinem Hinterrad lässt es sich gut lutschen, dachte ich mir,
fuhr schnell und doch kontrolliert um die anderen Radler herum die
Brücke runter.
Kurz
darauf kam ich bei ihm an. Es ging ihm schlecht. Eigentlich wollte
er nur heil ins Ziel kommen. Nicht die Strecke tötet, sondern das
Tempo. Diesen Lehrsatz hab ich von ihm. Er aber hielt gnadenlos
gegen sich selbst an jeder Steigung das Tempo hoch. Ich ließ
abreißen.
Dann bei der
Feldertrennung machte ich den entscheidenden Fehler. Hätte ich
geahnt, dass schon zehn Kilometer weiter meine Beine den Dienst
versagten, wäre ich links rausgefahren, hätte akzeptieren müssen,
dass dies nicht mein Renntag war. Man kann 50 Meter lang beißen,
vielleicht auch 500, aber nicht 50.000. So musste ich dann die erste
Gehpause einlegen, war auf der Zusatzrunde von allen im Ziel
angekommenen der mit Abstand langsamste. Einen kurzen Moment dachte
ich ans aufgeben, machte mir aber immer wieder Mut, weil ich den
Besenwagen in weiter Ferne wähnte.
Ca. 15 Kilometer
vor der Verpflegungsstelle in Wedel war mein Getränkevorrat
aufgezehrt und die Sonne brannte unerbittlich. Da sah ich in Holm
einen Arm sich mir entgegenstrecken. An dem einen Ende erkannte ich
eine Frau, an dem anderen einen Becher mit Wasser. "Für
mich?" dachte ich mir. Vorsichtig fuhr ich heran, wollte mir
den Frust darüber abgewiesen zu werden, ersparen. "Für
mich?" fragte ich nun laut. "Ja!". Schön, dass es
solche barmherzige Samariterinnen gibt.
An der
Verpflegungsstelle angekommen, schoss ich erst mal ein Foto. Ein
Helfer bot an, mich mit meiner Kamera zu fotografieren. "Nicht
in meiner schwersten Stunde. Vielleicht nach der Pause." Ich
ließ meine beiden großen Trinkflaschen auffüllen und erkundigte
mich danach, wann denn wohl der Besenwagen käme. "So in fünf
bis zehn Minuten." sagte man mir. Was? Das darf doch nicht wahr
sein. Wenige Tage vorher hatte
ich in der Kantine gegenüber Roger Schwarz (MS) getönt, dass ich
mit dem Besenwagen nichts zu tun hätte.
Ich ließ die
Verabredung zum Foto sausen und schwang mich wieder auf 's Rad.
Einige Kilometer weiter stellte ich dann entsetzt fest, dass ich in
der Hektik meine Trinkflaschen stehen gelassen hatte. Das einzig
positive daran war, dass ich mich über beide eh nur geärgert
hatte.
Zunächst war da
die Magnum-Flasche, eine Innovation von Zéfal, die einen ganzen
Liter faßte. Die hatte ich mir erst am Freitag auf dem Cycle Park
gekauft. Als ich sie während des Rennens erstmals zum Trinken
ansetzte und zusammendrückte, quoll nur die Hälfte der
Flüssigkeit in meinen Mund. Die andere ergoß sich am Trinkstutzen
vorbei über mein Gesicht. Damit das nicht wieder geschah, musste
ich den Rest des Gesöffs wie ein Säugling zu mir nehmen.
Die ebenfalls neue
0,75-Liter-Trinkflasche von Trenga.de bereite mir ebenfalls Ärger.
Die war so dünn, dass sie sich während der Fahrt im Flaschenhalter
am Sattelrohr drehte. Immer wieder schrammten dann die am Deckel
angebrachten Laschen an meinen Beinen. Um das zu verhindern, bog ich
in voller Fahrt den Flaschenhalter dichter an das Oberrohr, die
andere Hand am Lenker und dabei die volle Flasche zwischen den
Zähnen haltend.
Man sollte halt
nur erprobtes Material auf ein Rennen mitnehmen. Zu alt sollte es
allerdings auch nicht sein. In meine Trikottaschen hatte ich extra
meine ältesten Buddeln gesteckt, um sie dann leer an die danach
bettelnden Kinder ("Flasche!") zu verschenken. Das Plastik
war so alt, dass es unelastisch
geworden war, sich die Flaschen ebenfalls nur aussaugen ließen.
Beim Anstieg
am Falkensteiner Ufer schob ich freiwillig mein Rad. Einen Nebenmann
erwischten die Krämpfe im Sattel. Er schrie vor Schmerzen
auf. Ich verzehrte während dessen meine letzte
Verpflegungsportion, Enervitene
von Enervit. "Da geht
noch mal das Licht an." hatte mir der Verkäufer prophezeit.
Vielleicht hat 's
sogar geholfen, ab dem Kösterberg konnte mich nichts mehr
erschüttern. Selbst den von mir gefürchteten Anstieg auf den
Elbhang schaffte ich klaglos. Zwischenzeitlich hatte ich mich einem
Radler aus Thürringen angeSchlossen. Wohl weil der keinen
Internet-Anschluss hat und diese Zeilen nicht lesen kann, hatte ich
vergessen, mir seinen Namen auf 's Band zu sprechen. Von der
Elbchaussee aus genossen wir den Blick auf drei neben uns
schwimmende Container-Riesen.
In
Blankenese wünschte ich mir noch, Falk Wollatz (ORG) Familie würde
mir vom Gartenzaun aus etwas zu beißen reichen. Die waren
sicherlich schon lange wieder im Haus. Immerhin war er auf der
Kurzstrecke satte dreieinhalb Stunden vor mir dort vorbeigekommen.
Bei der
Zieleinfahrt zücke ich wieder die Kamera, fahre mit dem Apparat vor
den Augen allein durch die lange Zielgasse. Leider war da der Himmel
bedeckt, was zu langen Belichtungszeiten und verwackelten Bildern
führte. Immerhin kann man auf ihnen erstaunte und begeisterte
Zuschauer erkennen.
Als ich ganz
allein hinter der Ziellinie ein Foto von den zuschauenden Ulrike
Rotermund (ORG) mit Ehemann Maik und Tochter schießen wollte, wurde
ich konsequent aus dem Zielbereich vertrieben. Ich fand das etwas
kleinlich, aber grundsätzlich doch richtig, um Staus und Unfälle
zu vermeiden.
Nach
mir haben wohl maximal noch fünf Leute die Ziellinie überfahren,
waren dem Besenwagen nur knapper entronnen. Über 15.200 Teilnehmer
waren es vor mir, davon ca. 1.800 Langestreckler. 16.900 hatten sich insgesamt angemeldet. Letztere Zahlen
liegen beide etwa um 2.000 höher als im Vorjahr. Offiziell hatte
man nur 14.000 Anmeldungen zugelassen. Im nächsten Jahr sollen es
20.000 werden!
Bei der
Transponderrückgabe traf ich Henning Koller (Rev) mit Freundin
Susanne Karstens, Schwager William
"Scott" Burson aus den USA (Startnummer 9999!) sowie Martina
Mollenhauer, die uns später ablichtet. Wir beschließen auf eine
Pause, Verpflegung und Massage zu
verzichten und um lieber die Fahrt der Profis durch die
Mönckebergstraße zu erleben.
Aus
der zweiten Reihe zuschauend war für mich das Publikum das
beeindruckendste. Vor den Profis fuhr ein Motorradfahrer freihändig
durch die Zuschauermassen, animierte die Leute mit den Armen zum
Jubeln. Die ließen sich nicht lange bitten. Ohrenbetäubender Lärm
begleitete das Peloton bei der Fahrt durch Hamburgs
Haupteinkaufstraße.
Nachdem ich
gemütlich nach Hause geradelt war, hab ich mir den Rest im
Fernsehen angesehen, noch einmal die auch von mir gefahrenen
Streckenabschnitte Revue passieren lassen. Der prompt einsetzende
Muskelkater ließ mich zum Autofahrer wider Willen werden. Erst vier
Tage später bin ich wieder in den Sattel gestiegen.
Es folgen die
Tachoprotokolle. Um meine Hoch- und Tiefpunkte zu verdeutlichen,
ausnahmsweise mal in zeitlicher Folge, statt nach Distanz
aufbereitet.
Bild von mir
während der Fahrt: Jürgen Marschner - Gruppenfoto: Martina
Mollenhauer
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